Kulturelle Chamäleons

Interview: Third Culture Kids

Maxie Kordes

Maxie Kordes ist Diakonin und Gemeindepädagogin und arbeitet bei der Vereinten evangelischen Mission - VEM in Bielefeld.

Zu ihren Projekten zählen auch regelmäßige Tagungen für Third Culture Kids, die die VEM in Kooperation mit dem evangelisch Lutherischen Missionswerk in Niedersachsen anbietet.

Frau Kordes, wann ist Ihnen erstmals der Begriff Third Culture Kids begegnet?

Die Thematik von Menschen, die als Kinder und Jugendliche eine längere Zeit in einem anderen Land gelebt haben, beschäftigt mich schon länger. Ich habe selbst im Ausland gelebt und gearbeitet und viel Kontakt zu Leuten, die mit ihren Familien längere Zeit im Ausland waren. Der Begriff Third Culture Kids – oder kurz TCK – ist mir allerdings tatsächlich erst vor ein paar Jahren bei meiner Arbeit hier bei der VEM begegnet. Wir bieten ja die sogenannten Third Culture Kids Days an. Und ich habe dieses spannende Projekt vor fünf Jahren von einer Kollegin übernommen.

Irgendwann kehrt die Familie zurück in die Erstkultur – und dann merken die Kinder und Jugendlichen, dass sie da nicht "ganz rein" passen.

Was bedeutet „TCK“ denn genau?

Als Third Culture Kids bezeichnet man Menschen, die als Kinder oder Jugendliche eine längere Zeit mit ihren Eltern in einer Kultur verbracht haben, die den Eltern selbst fremd war. Sie haben also länger im Ausland gelebt und dann irgendwann die Rückkehrerfahrung gemacht.

Als Erstkultur bezeichnet man dabei die Kultur der Eltern, die Zweitkultur ist die Gastkultur, in der die jungen Menschen eine Zeit lang gelebt haben. Irgendwann kehrt die Familie zurück in die Erstkultur – und dann merken die Kinder und Jugendlichen, dass sie da nicht "ganz rein" passen. Auch wenn sie ein enges Verhältnis zu ihren Eltern haben und die Erstkultur auch wieder sehr weit übernehmen, so bleibt doch oft eine Differenz. Sie gehören nicht ganz zur Erstkultur und aufgrund der Rückkehr auch nicht mehr zur Gastkultur – es entsteht sozusagen eine Drittkultur.

Welche Folgen hat das für die jungen Menschen?

Third Culture Kids Tagung der Vereinten evangelischen Mission in Bielefeld.

Es fällt ihnen beispielsweise schwer, so etwas wie Heimat für sich zu definieren. Das selbstverständliche Gefühl irgendwo herzukommen, ein ursprüngliches Zuhause zu haben, kennen viele TCKs nicht so wie Gleichaltrige.

Wenn bei unseren Veranstaltungen die Frage aufkommt "Wo seid ihr zuhause?", dann gucken uns alle ziemlich lange an. Manche nennen dann ihre derzeitige Adresse, andere widersprechen, vielen fällt gar keine Antwort ein. Die meisten machen die Begriffe Heimat oder Zuhause schließlich nicht an einer Region fest, sondern sagen einfach: "Meine Heimat – das ist meine Familie."

Eltern sollten bedenken, dass ihr Abschied ein anderer ist als der ihrer Kinder.

Was können Eltern tun, um den Kindern den Abschied aus dem Gastland zu erleichtern?

Berufliche Entscheidungen der Eltern sind für Kinder oft nicht leicht zu verstehen oder nachvollziehbar. Eltern sollten daher sehr offen gegenüber ihren Kindern sein und transparent mit dem Thema "Rückkehr" umgehen. Sie sollten deutlich machen, warum sie sich zum Schritt der Rückkehr entschlossen haben oder warum dieser erfolgen muss.

Es ist auch hilfreich, wenn Eltern darüber sprechen, dass sie selbst Unsicherheiten bei der Rückkehr empfinden. Und Eltern dürfen natürlich auch sagen, dass eine Heimkehr für sie etwas Tolles ist, worauf sie sich freuen.

Wichtig ist es, für den Abschied vom Gastland genügend Zeit einzuplanen. Dazu zählt, diesen zu zelebrieren, dabei Wertschätzung für das Gastland und seine Kultur zu zeigen, noch einmal lieb gewonnene Orte oder Kulturveranstaltungen zu besuchen oder beispielsweise essen zu gehen. Eltern sollten bedenken, dass ihr Abschied ein anderer ist als der ihrer Kinder. Die Kinder verlassen ihre Umgebung, die ihnen aktuell vertrauter ist als die Heimat der Eltern. Dementsprechend sollte man die Kinder fragen: Wie stellt ihr euch den Abschied vor? Wie wollt ihr diesen gestalten? Möchtet ihr mit besonderen Freunden feiern?

Ich würde einmal um die Welt fliegen und alle meine Freunde besuchen.

Wie reagieren junge Menschen auf den Abschied – nicht nur vom Gastland, sondern auch von Freunden und einer vertrauten Umgebung?

Natürlich ist ein Abschied immer schwer. Allerdings sind viele Jugendliche in den Gastländern auf internationalen Schulen. Dort erleben sie immer wieder Abschiede von Freundinnen und Freunden und lernen in gewisser Weise damit umzugehen. Viele entwickeln dann ein ganz internationales Freundesnetzwerk. Auf die Frage „Was würdet ihr mit einer Million Euro machen?“ hören wir oft: „Ich würde einmal um die Welt fliegen und alle meine Freunde besuchen?

Trotzdem darf man nicht unterschätzen, welch ein gravierender Schritt die Rückkehr ist. Es gibt Jugendliche, die sich in der Situation völlig ausgeliefert fühlen. Sie haben ja keine Wahl, was das Zurückkehren angeht, und manche wollen gar nicht zurück.

Das kann dann natürlich zu familiären Konflikten führen. Manche rebellieren ganz offen gegen die Situation und die Eltern, schneiden sich die Haare, piercen sich, verweigern sich in der Schule, …

In solchen Fällen ist offensichtlich, dass es Probleme gibt. Da kann oder muss man als Familie reagieren und eventuell auch professionelle Hilfe und Beratung in Anspruch nehmen. Während unserer Veranstaltungen berichten junge Menschen auch immer wieder, dass es Phasen sehr rauer Familienkonflikte gab, dass diese aber mit viel Geduld, Verständnis und Offenheit in der Familie gelöst wurden.

Schwieriger ist es, wenn Jugendliche sich verschließen und zurückziehen, dann sollten Eltern schon aufmerksam werden. Da kann die ungewöhnliche Anpassungsfähigkeit vieler Third Culture Kids eine Rolle spielen: Die Kinder nehmen sich zurück. Manche merken auch, dass die Eltern Last mit der Rückkehr haben und wollen nicht noch zusätzliche Schwierigkeiten machen. Das ist natürlich zunächst angenehm, wenn die Kinder so rücksichtsvoll sind, dann ist allerdings die Gefahr groß, dass die Thematiken und Problemfelder der Kinder auf der Strecke bleiben.

Worauf sollten Eltern achten, um solche Probleme ihrer Kinder zu erkennen?

Third Culture Kids Tagung der Vereinten evangelischen Mission (VEM) in Bielefeld

Da gibt es kein Patentrezept. Eltern kennen ihre Kinder selbst am besten. Wichtig ist, dass die sie aufmerksam sind und wahrnehmen, wie sie ihr Kind erleben. Man sollte aber nicht zu übertrieben deuten und nicht immer direkt den vergangenen Auslandaufenthalt als Ursache für eine stille oder auch einmal traurige Phase eines Kindes sehen. Es kann ja auch sein, dass es Ärger in der Klasse hat oder verliebt ist und sich deshalb etwas zurückzieht. Nicht jede Veränderung hat mit dem Thema Rückkehr zu tun.

Eltern können ihren Kindern spiegeln, wie sie diese wahrnehmen „Ich sehe das du letzte Zeit oft ruhig oder traurig bist, kann ich etwas für dich tun?“, also lieber Kommunikationsangebote machen, als deuten und zu viel hineininterpretieren.

Sie haben in der Gastkultur gerne Deutsch als Geheimsprache mit Geschwistern und Freunden gesprochen, jetzt ist das plötzlich die Alltagssprache.

Wie erleben die Third Culture Kids denn eigentlich die Rückkehr in die Erstkultur?

Es ist ein Wechsel von einer Kultur in eine andere: von der Gastkultur, die den Kindern gerade sehr vertraut ist, in die Heimatkultur der Eltern. Während die Eltern nach Hause kommen in eine ihnen lang vertraute Umgebung, sind viele Kinder im Moment der Rückkehr viel vertrauter mit dem Alltag und den Gepflogenheiten des Gastlandes.

Da gibt es wichtige Veränderungen in puncto Sprache. Plötzlich ist Deutsch, das vorher nur im Familienkontext gesprochen hat, auf der Straße das übliche Kommunikationsmittel. Jugendliche berichten immer wieder, dass sie plötzlich keine Geheimsprache mehr haben. Sie haben in der Gastkultur gerne Deutsch als Geheimsprache mit Geschwistern und Freunden gesprochen, jetzt ist das plötzlich die Alltagssprache.

Komplizierter sind aber die Veränderungen in nonverbalen Bereichen, und das betrifft viele, auch subtile Formen zwischenmenschlicher Kommunikation: Hier in Deutschland hält man beispielsweise Blickkontakt, das gilt in vielen anderen Ländern als unziemlich. Bei uns wirkt es dagegen als unhöflich oder unsicher, keinen Blickkontakt zu halten.

Gerade Gepflogenheiten, die im Alltag der Erstkultur sehr selbstverständlich sind, werden bei der Rückkehr oft nicht reflektiert und auch gar nicht thematisiert: etwa die Tischmanieren, wem man die Hand gibt, welche Menschen man duzt oder siezt, …

Viele TCK erleben es als echte Herausforderung, sich diese Gepflogenheiten anzueignen. Sie ecken oft erst einmal an. Sie sind nicht selbstverständlich und zuhause in der Erstkultur, manche sprechen dann davon, dass sie sich regelrecht entwurzelt und fremd fühlen.

Sie veranstalten ja regelmäßig Tagungen für TCKs. Welche Erfahrungen machen Sie mit diesen jungen Menschen?

Ich erlebe diese jungen Menschen immer als ganz ungewöhnlich offen. Ich arbeite auch viel mit Jugendlichen in anderen Kontexten, aber die Gruppendynamik bei den Third Culture Kid hat immer ein ganz besonderes, ein unglaublich rasantes Tempo.

Die Jugendlichen sind unglaublich anpassungsfähig; nicht im negativen Sinne dieses Wortes. Es ist nicht so, dass sie sich verleugnen, sie sind vielmehr sehr offen für Neues und neue Menschen – und dabei sehr authentisch.

Ich habe den Eindruck, sie leben oft viel stärker im hier und jetzt: Manche haben mehrfach die Erfahrung gemacht, eine vertraute Umgebung verlassen und sich auf eine neue mit neuen Menschen einlassen zu müssen. Sie haben gelernt auf Leute zuzugehen. Daher ist der Kontaktaufbau viel unvermittelter, es gibt keinen langen einführenden Smalltalk, kein langsames vorsichtiges Sich-Kennenlernen.

Sie sehen sich selbst als kulturelle Chamäleons – ein Begriff, den wir bei unseren Tagungen häufig hören und der mir gut gefällt: authentische kulturelle Chamäleons, sehr facetten- und farbenreich und sehr anpassungsfähig.

Sie wirken „etwas älter“ als Gleichaltrige, die keine längere Auslandserfahrung haben. Diese Jugendlichen bringen Erlebnisse aus Ländern mit, von denen viele Gleichaltrige noch nie gehört haben. Viele verstehen aus eigener Anschauung, was Armut heißt, viele verstehen, was Konflikt heißt. Das führt auch zu einer weiteren und differenzierten Weltsicht. Ich erlebe sie als Jugendliche mit einem ganz anderen Verständnis von Vorurteilen: Sie reden nicht über DIE Afrikaner oder DIE Asiaten. 

Es gibt andere, die genauso ticken wie ich.

Wie häufig finden diese TCK-Veranstaltungen statt? Und was steht im Zentrum dieser Tagungen?

Wir bieten alle zwei Jahre unsere viertägige Tagung für TCKs an. Das Programm ist sehr intensiv: Es geht darum, Wurzeln zu erspüren: Was hat mich geprägt? Wie geht es weiter? Wo geht es hin? Wir schaffen Räume, über Erlebnisse und den Aufenthalt im Gastland, den Abschied, die Rückkehr zu sprechen, sich auszutauschen und Gleichgesinnte zu treffen. Bei uns können die jungen Menschen ihre Stärken und Kompetenzen erforschen. Wir fragen und diskutieren, was Kultur überhaupt ist, was speziell die „Dritte Kultur“ ausmacht und wir begleiten das Ganze spirituell, feiern Andachten, fördern Gemeinschaft und, und, und.

So ermöglichen wir auch die wichtige Erfahrung: „Es gibt andere, die genauso ticken wie ich.“ und oft hören wir bei den Schlussrunden: „Ich habe hier ein neues Zuhause, hier in dieser Gruppe von Jugendlichen, die mir sehr ähnlich sind, die Ähnliches erlebt haben.“

Das Interview führte für die AGdD Dieter Kroppenberg, Stand: 2017

Literatur-Tipps

Pollock, Van Reken, Pflüger: Third Culture Kids. Verlag der Francke-Buchhandlung, 3. Auflage 2014

Blog: Expat Mamas. Im Ausland zuhause.