Mit den Opfern neu sehen lernen

Friederike Repnik

Es ist Donnerstagmittag. Meine Kollegin Laura und ich sitzen mit 25 Männern und Frauen im Stuhlkreis und plaudern über die vergangenen Tage und den Regen in Bogotá. Die Stimmung ist gelöst. Sie fragen mich Dinge über Deutschland, lächeln, weil ich mal wieder la corazón statt el corazón sage. Kaum zu glauben, dass wir zwei Stunden zuvor noch in einer scheinbar komplett anderen Welt waren – in einer Welt voller Gewalt und Leiden, ohne Lächeln. Denn das, was diese Menschen hier im Stuhlkreis verbindet und was sie zu diesem Treffen geführt hat, sind die Erfahrungen von Gewalt und Vertreibung. Im Workshop „Umgang mit Trauer“ erzählen, malen und schweigen sie über das, was ihnen widerfahren ist. Sie weinen, sind wütend und fassungslos, unermesslich traurig und: Sie sind verletzt. Aber sie haben überlebt, sind da, teilen sich mit, leben weiter. Das ist mehr, als sich viele der vertriebenen Menschen in Kolumbien vorstellen können.

„Wirst Du den Menschen in deinem Land von uns erzählen?“ fragen sie mich in unsere Plauderei hinein. Und dann ist der Schmerz plötzlich wieder da. Aber auch Mut und Hoffnung: Mut, ihre Geschichten zu erzählen, Hoffnung, dass sie gehört werden. Wie könnte ich nicht von ihnen erzählen, von den Menschen, die mir in vier Jahren so viel von sich gezeigt haben, die dem Wort Vertrauen nicht trauen und sich mir dennoch anvertraut haben, die mir mit ihrer Mischung aus Hoffnung und Angst, Lebensfreude und Trauer, Wut und Nachsicht jeden Tag aufs Neue vom Leben erzählt haben.

„Wirst du den Menschen in deinem Land von uns erzählen?“ sind die ersten Worte meiner Doktorarbeit über Traumaarbeit in anhaltenden Gewaltstrukturen und die Rolle von Religion am Beispiel des bewaffneten Konflikts in Kolumbien, die ich im März 2017 an der Universität Bremen eingereicht habe. Diese Frage bildet meine Brücke zwischen den Menschen in Kolumbien, die erzählen, und den Menschen hier in Deutschland, die zuhören. Sie ist die Verbindung zwischen Menschen, die viel zu wenig voneinander wissen. Und sie ist die Vertiefung einer Arbeit, die mich kaum eingehender zugleich berühren, beleben und herausfordern könnte. Also erzähle ich von ihnen, schreibe meine Arbeit über den Konflikt in Kolumbien, setze mich weiter mit der psychosozialen Begleitung von vertriebenen Menschen auseinander und gehe der Frage nach, wie diese nach erlebter Gewalt zu einer selbstbestimmten Lebensgestaltung zurückfinden können. Und ich gehe der Frage nach, welche Rolle Religion im Umgang mit Vertreibung und Gewalterfahrungen spielt. Immer wieder stelle ich dabei ganz bewusst die Perspektive der Konfliktopfer in den Mittelpunkt.

Mit den Opfern neu sehen lernen. Ich gebe Einblicke in Erkenntnisse, die ich nur gewinnen konnte, weil ich mit den Menschen in Kolumbien Wege gemeinsam gegangen bin. So arbeite ich unter anderem heraus, wie umfassend Gewalt das Leben der Menschen in Kolumbien bestimmt, wie sie über Jahrzehnte hinweg zu einem endemischen Bestandteil der politischen Kommunikation geworden ist. Und auch, wie wichtig Stabilisierung in der Begleitung von Konfliktopfern ist und wie Religion und Kirchen aus Perspektive der betroffenen Menschen gerade hierbei einen wertvollen Beitrag leisten können. Denn sie bieten einen Rahmen für die Auseinandersetzung mit dem Erlebten und für die Neugestaltung des Alltags, ermöglichen Gemeinschaft und geben Halt als Artikulationsmedium im Umgang mit Gewalt und ihren Folgen. Ich erzähle das, was die Menschen mir erzählt haben, löse mein Versprechen ein und habe die Hoffnung, etwas von dem zurückgeben zu können, was ich in vier Jahren Kolumbien bekommen habe.

Friederike Repnik war von 2009 bis 2013 in Kolumbien (erschienen in transfer Ausgabe 1/2017)