Sensibilisieren und empowern
comMIT!ment – ein Bildungsprojekt der „Jungenarbeit Hamburg"
Meine Partnerin Anna und ich entschieden uns 2014, mit der schweizerischen Organisation Comundo und der AGEH als Entsendedienst (heute AGIAMONDO) nach Kolumbien zu gehen. Wir freuten uns auf Begegnungen, Herausforderungen und Abenteuer in Lateinamerika. Unsere Heimatstadt Hamburg wirkte gegen Bogota wie ein Dorf. Die Stadt beeindruckte uns als eine unglaublich energiegeladene Metropole mit sehr vielen Menschen, aber auch deutlich sichtbaren sozialen Missständen.
In Soacha, einer Vorstadt Bogotas, zeigen sich die Auswirkungen der allgemein schwierigen politischen Situation Lateinamerikas und speziell Kolumbiens mit seinen langjährigen bewaffneten Konflikten. Hierhin fliehen seit Jahren viele Familien aus ganz Kolumbien vor den (Land-)Konflikten zwischen bewaffneten Gruppen, Drohungen und Vertreibungen. Im Stadtteil Rincon del Lago – früher ein Ausflugsziel mit Seeambiente für die Bogotaner – fanden sie eine Zuflucht, allerdings unter sehr prekären Lebensbedingungen.
Mit den ersten Wellen geflüchteter Menschen eröffnete die Kirche dort mit dem Projekt Creciendo Juntos einen Ort des Ankommens. Zunächst wurde nur das Nötigste wie Essenspakete oder auch Matratzen verteilt. Mit der Zeit entstand in dem Viertel eine rudimentäre Infrastruktur, die die Bewohner*innen immerhin mit Strom und Wasser versorgt. Hier zeigte sich schon früh die Kraft der Menschen, sich zu organisieren und gemeinsam Lösungen zu finden – und das in einem immer sehr gewaltgeprägten Umfeld. Besonders gefährdet sind hier Kinder, Jugendliche und Frauen, die unter Übergriffen organisierter Banden, der Sicherheitsinstanzen und auch der eigenen Familien und Nachbarschaft leiden.
Meine Aufgabe war es, die lokale kirchliche Organisation zu beraten und eine nachhaltige Vernetzung mit weiteren Akteuren aufzubauen. Zudem entwickelten wir pädagogische Konzepte für verschiedene Bildungsangebote inhaltlich weiter und sorgten dann auch für die Umsetzung. Die direkten Kontakte mit den Menschen dort waren für mich persönlich intensive und bereichernde Momente. Meine Kenntnisse als Sozialarbeiter und -pädagoge in der Bildungsarbeit und Jugendhilfe halfen mir zwar, doch im konkreten Kontext vor Ort war ich weit über diese fachlichen Aspekte hinaus gefordert. Ich würde sagen, es handelte sich um eine Art Gemeinwesenarbeit: Wirklich alle denkbaren Probleme, die in der Nachbarschaft auftauchten, haben wir kommuniziert und besprochen und dann gemeinsam nach Lösungen gesucht.
Rückkehr und Neuorientierung
Ende 2017 kehrten wir wieder nach Hamburg zurück. Zunächst nahmen wir uns etwas Zeit, um anzukommen. Bis zum Rückflug nahmen die Projektübergabe, das Verabschieden und die Wohnungsauflösung viel Raum ein, wobei wir auch sehr auf unseren damals einjährigen Sohn achteten. Es gab dementsprechend kaum Luft für konkrete Lebensplanungen nach der Ankunft in Hamburg. Andere bekommen diesen Übergang ja vielleicht vorausschauender hin, mich überforderten die Gedanken an eine neue Arbeitsstelle, eine neue Wohnung und die vielen Dinge, die nun zu planen waren. Und es sollte ja auch alles für die ganze Familie passen.
Nach einem kleinen Wohnungshopping fanden wir schließlich eine nette Bleibe. Die Arbeitsagentur fing uns ökonomisch gut auf und mir wurde kein Druck gemacht, schnellstmöglich irgendeinen Job anzunehmen. Es gab und gibt weiterhin einen großen Bedarf an männlichen Sozialarbeitern. Ich verschaffte mir einen Stellenüberblick mit Hilfe des Alumni-Stellen-Verteilers meiner Fachhochschule und der bekannten Stellenportale.
Was in dieser Zeit der Neuorientierung aber immer deutlicher wurde, das war mein Wunsch, als Sozialpädagoge in der politischen Bildungsarbeit Fuß zu fassen und gesellschaftliche Transformationsprozesse mitzugestalten. Warum sollte dies nur in der Entwicklungszusammenarbeit möglich sein? Bedarf gibt es auch in Europa! Da ich drei Monate nach der Rückkehr noch kein mich inhaltlich wirklich überzeugendes Angebot gefunden hatte, begann ich zunächst über die Arbeitsagentur eine Weiterbildung im Projektmanagement.
Jungenarbeit in Hamburg
Noch während dieser Weiterbildung machte mich dann eine Freundin auf eine sehr interessante Stellenausschreibung des Vereins „Jungenarbeit Hamburg“ aufmerksam. Das Projekt comMIT!ment suchte eine*n Mitarbeiter*in im Bereich der Bildungsarbeit. Das Projekt sensibilisiert und empowert Jungen und junge Männer zu den Themenschwerpunkten Rassismus, Sexismus und Homophobie, damit diese ihr Wissen und ihre Haltung in weiteren Projekten und Workshops an andere aus ihren Peergruppen weitergeben können. Bei der Bewerbung konnte ich mich sehr auf die Aspekte Friedensarbeit und Demokratieförderung, Organisationsentwicklung und auch interkulturelle Erfahrung aus meiner Zeit in Kolumbien beziehen – mit Erfolg: Seit 2018 arbeite ich nun in diesem Projekt.
Ich merke an dem Engagement unserer jungen Teilnehmer*innen, dass die Themen für sie eine große Relevanz haben. Die Auseinandersetzung in der Gruppe mit der eigenen Herkunft, den eigenen Geschlechtsvorstellungen und auferlegten Rollenbildern ist sehr aktuell und diese zu dekonstruieren sehr spannend. Über sexuelle Vielfalt zu sprechen, ist im Schulkontext oft eine große Herausforderung, doch wir sorgen in den Gruppen in vielen kleinen Schritten für Offenheit.
Das Thema Flucht und Migration spielt in Hamburg und in unserer Arbeit eine große Rolle. Es gibt gesellschaftliche Vorurteile, dass geflüchtete Menschen bestimmte Werte des Zusammenlebens noch lernen müssten, da beispielsweise in „ihren“ Kulturen und Ländern Frauen weiterhin benachteiligt werden. Solchen rassistischen Stereotypen begegnen wir mit Empowerment der betroffenen Menschen. Wir tauschen uns in den Gruppen über die eigene Migrationsgeschichte und das Weiss-Sein aus. Gemeinsam entwickeln wir Perspektiven als Männer in dieser patriarchalen Gesellschaft und setzen uns mit unseren Privilegien kritisch auseinander. Wichtige Fragestellungen sind, wie wir gemeinsam zusammenleben wollen, wer Entscheidungen trifft, wie Rollen in der Gesellschaft und den Familien geteilt werden oder wie inklusiv gedacht wird.
Hilfreiche Erfahrungen aus Kolumbien
Konzeptionell kann ich bei meiner aktuellen Arbeit meine Kenntnisse aus der Theaterpädagogik einbringen, die ich in Kolumbien kennengelernt und bei Creciendo Juntos angewendet habe. Als wertvoll erweisen sich auch meine Qualifizierungen zur Organisationsentwicklung vor der Ausreise und diesbezügliche Erfahrungen vor Ort. Und auch meine interkulturellen Kompetenzen aus dem Entwicklungsdienst sind hilfreich, da unsere Gruppen eine große kulturelle Diversität aufweisen.
In Kolumbien wurde ich zudem stark von Begegnungen mit Ansätzen der investigación acción participativa, bekannt als Participatory Action Research, inspiriert. Die kolumbianischen Soziologen Fals Borda und Camilo Torres entwickelten dieses Konzept weiter, um soziale Transformationsprozesse von Communitys unter anderem mithilfe von Aktionen zu verstehen und umzusetzen. Daher reizt es mich auch im Rahmen meiner Arbeit hier in Hamburg, mit den jungen Menschen kreative Aktionen hin zu einer Transformation der Lebenswelt zu gestalten. So haben wir beispielsweise zuletzt mit einer unserer Gruppen von Jugendlichen den ersten Projektsong mit Video – together free! – fertig gestellt.
Es sind genau solche Aktivitäten, bei denen Botschaften in die Welt gesendet werden und die Jungs glücklich auf ihr Engagement blicken, die für mich den sinngebenden Teil meiner Arbeit ausmachen.
Weltverbundenheit
Anna und ich denken immer wieder über unsere Zeit in Kolumbien nach, in unserer Wohnung finden sich viele Erinnerungen und dies inspiriert uns. Aber wir erzählen und berichten auch gerne über unsere Erfahrungen in anderen Teilen der Welt, denn tatsächlich leben viele Menschen hier in den Ländern des Nordens in komfortablen Blasen und brauchen diesen Perspektivwechsel und diese Inspiration. Dabei ist mir aber auch wichtig, die Länder des Südens nicht als entwicklungsbedürftig darzustellen, sondern auch ihren Reichtum an Ideen und Aufbegehren deutlich zu machen.
Da in Hamburg Menschen aus der ganzen Welt zusammenkommen, habe ich auch hier beruflich weiterhin ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit der Welt. Beruflich und im Alltag erlebe ich bei den Themenfeldern Rassismus, Sexismus und Homophobie viele Überschneidungen mit meinen Erlebnissen aus der Zeit der Entwicklungszusammenarbeit oder auch aus Guatemala, dem Land, in dem mein Vater geboren wurde. Und ich freue mich immer, wenn ich mich nebenbei mit Einzelnen auch mal in Spanisch austauschen kann und somit die Welt zusammenrückt.
Jan Barrientos
Sozialarbeiter und -pädagoge
2014 - 2017: Kolumbien, AGIAMONDO