„Mit der restorativen Brille sah ich den Menschen hinter der Tat“

Friedensarbeit in Bolivien mit dem Ansatz „Restorative Praktiken“

Von Andreas Riemann (Januar 2023)

„Restorative Justice is respect. Respect for all, even those who are different from us; even those who seem to be our enemies. Respect reminds us of our interconnectedness, but also of our differences. Respect insists we balance concerns for all parties. If we pursue justice as respect, we will do justice restoratively.”1 Howard Zehr

Andreas Riemann in der Reflektion mit Eltern.

Von 2016 bis 2022 war ich im Rahmen des Zivilen Friedensdienst für „EIRENE – Internationaler Christlicher Friedensdienst“ als Fachkraft in der bolivianischen Großstadt El Alto tätig. Dort arbeitete ich im „Centro de Comunicación Cultural Chasqui“, eine Art alternatives Kultur- und Bildungszentrum. Das Zentrum, der ansässigen Bevölkerung auch unter dem Namen „El Chasqui“ bekannt, steht für die Wiederaneignung der (indigenen) Aymara-Kultur und des Konzepts des Guten Lebens (Vivir Bien). Außerdem setzt es sich für die umfassende Bildung und Förderung historisch diskriminierter Bevölkerungsgruppen ein. Im Besonderen sind dies Kinder, Jugendliche und ihre Familien. 

Meine Hauptaufgabe als Fachkraft war die Entwicklung eines umfassenden Konzepts zur Gewaltprävention an staatlichen Schulen. Damit einher ging die Vorstellung und Einführung von Gewalt- und Konflikttheorien und von didaktischen Materialien für friedenspädagogische Aktivitäten mit dem Ziel, einen konstruktiven Umgang mit Gewalterfahrungen sowie mit schulischen, familiären und sozialen Konflikten zu vermitteln.

Neben dem klassischen, friedenspädagogischen Instrument der Streitschlichtung (Schulmediaton) gehörten auch die auf dem Konzept der restorativen Justiz basierten restorativen Praktiken zu den von mir beworbenen Ansätzen, und dies aus einem bestimmten Grund. In der hochkonfliktiven, bolivianischen Gesellschaft ist die Idee, dass man Gleiches mit Gleichem vergelten muss, sehr verbreitet. Diese wird von der Erwachsenengeneration an Kinder und Jugendliche weitergegeben, ohne sie zu hinterfragen. Restorative Praktiken suchen hingegen nach anderen Antworten für soziale Probleme, und zwar nach solchen, die Wiedergutmachung ermöglichen.

Das oben genannte Zitat von Howard Zehr bringt die Essenz der restorativen Justiz und der in den letzten Jahren international immer stärker auch im Schulbereich verankerten restorativen Praktiken bereits auf den Punkt: Es geht darum, dass wir Menschen Fehler machen, dass wir die Aufgabe haben zu begreifen, dass wir nicht allein auf der Welt sind, dass wir heute nur mit Respekt und aus verschiedenen Perspektiven heraus an Lösungen für die komplexen, anstehenden Probleme der Gemeinschaft, der Gesellschaft und des Planeten arbeiten können. Und dass sogar die, über die wir gelernt haben mögen, dass sie unsere Feinde sind, in die Lösung miteinbezogen werden können, indem wir ihnen zuhören, Unterschiede benennen, sie gleichzeitig wertschätzen und Interessen sowie Bedenken ausbalancieren, damit Gerechtigkeit und positiver Friede möglich wird.

Internationaler Mediationskongress mit Partnerorganisationen

Was für manche Leser und Leserinnen vielleicht etwas utopisch daherkommt, hat sich einerseits im Bereich der Sozial- und Friedensarbeit in verschiedenen Regionen der Erde längst etabliert und ist andererseits seit Tausenden von Jahren Bestandteil indigenen Denkens. Restorative Justice im modernen Sinne, ähnlich der Mediation, entstand in den 1980er Jahren im Rahmen der Reform des Strafvollzugs, insbesondere in Ländern wie Australien, Kanada, den Vereinigten Staaten und Neuseeland. Im Laufe der Zeit reifte das Konzept der Restorative Justice und wurde dank der Perspektiven und Praktiken verschiedener Kulturen, einschließlich indigener Kulturen, stark bereichert. Es wird heute in vielen lateinamerikanischen Ländern praktiziert, aber auch in Deutschland und weiteren europäischen Ländern, vor allem im Jugendstrafbereich, aber auch immer öfter in Form der restorativen Pratiken in der Sozialarbeit und im Bildungsbereich. Der Täter-Opfer-Ausgleich gehört in Deutschland zu den klassischen restorativen Instrumenten der autonomen Konfliktbewältigung. Seit einigen Jahren gibt es sogar ein Institut für restorative Praktiken mit Sitz in Berlin.

Angesichts der Komplexität der Konflikte des gesellschaftlichen Lebens beschäftigt sich Restorative Justice mit der „Herstellung und Wiederherstellung von sozialen Beziehungen, Verbindungen (und) Bindungen“, (…) sowie der „Erzeugung von Wertschätzung, Unterstützung und Heilung durch gemeinsames Handeln“ (Fruechtel und Halibrand, 2016: 17). Dies wird besonders dann wichtig, wenn Unrecht geschieht, wenn z. B. ein Mensch einem anderen Menschen körperlichen oder psychischen Schaden zugefügt hat. Das punitive Konzept „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ fragt hier „Wer ist der/die Schuldige und welche Strafe hat er/sie verdient?“ Leitfragen der Restorative Justice sind hingegen: „Wer wurde verletzt?“, „Welche Bedürfnisse ergeben sich daraus?“, „Wessen Verpflichtung ist das?“, „Wer ist in dieser Situation betroffen?“, und „Wie sieht ein gemeinsamer Prozess aus, der die Betroffenen an dem Versuch beteiligt, die Dinge in Ordnung zu bringen?“ (Zehr, 2010: 51).

Mit anderen Worten schafft Restorative Justice einen geschützten Rahmen, in dem basierend auf dem Wert Respekt, ein inklusiver Prozess der Zusammenarbeit stattfindet: Betroffene werden beteiligt, Verpflichtungen werden angesprochen und das Augenmerk richtet sich auf Schäden und Bedürfnisse, damit die Dinge wieder in Ordnung gebracht werden können (Ibid, 46). Bezogen auf den Bereich der Gewaltprävention in Bolivien und anderen Ländern ist es immens wichtig, kognitive, soziale und affektiv-emotionale Kompetenzen von Schülern und Schülerinnen zu fördern, die das „sich einlassen“ auf solche Prozesse ermöglichen. Das Feedback auf die von mir organisierten „restorativen Kreise“, in denen die Beteiligten offen über die Geschehnisse sprechen konnten und über Bedürfnisse und Wiedergutmachung diskutierten, waren durchweg positiv und befähigten die Akteure dazu, Konflikte aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Andreas Riemann in der Reflektion mit Lehrpersonal.

Die letzten Jahre waren für mich persönlich und beruflich sehr herausfordernd. Die ernsthafte bolivianische Staatskrise von 2019 sowie die Covid-19 Pandemie, die in Bolivien einen sehr langen Lockdown beinhaltete, erschwerten die äußeren Bedingungen. Trotz dieser Umstände ist es mir gelungen, innerhalb des Eirene-Programms, meiner Partnerorganisation und an unseren Partnerschulen wertvolle Denkanstöße in Bezug auf einen anderen Umgang mit Gewalt und Konflikten zu geben.

Als führender Autor habe ich, gemeinsam mit meiner Partnerorganisation, im Oktober 2021 ein dreibändiges Handbuch zum Thema Mediation und restorative Praktiken im Schulbereich veröffentlicht. Dieses verbindet die genannten Themen miteinander und kommt nun an öffentlichen Schulen El Altos zum Einsatz. Ebenso konnte ich das Buch im universitären Bereich, beim internationalen Mediationskongress in der bolivianischen Hauptstadt Sucre sowie bei Radio- und TV-Stationen vorstellen. Der erste Band beinhaltet theoretische Grundlagen der Mediation und der restorativen Praktiken. Der zweite Band ist das eigentliche Handbuch zur Ausbildung von Streitschlichtern- und schlichterinnen. Der dritte Band ist als Leitfaden für die Implementierung von Schulprojekten konzipiert, in denen gewaltpräventive Instrumente zur Anwendung kommen.

Nach der Fertigstellung des Buches war ich sehr motiviert. Ich habe mich 2021 auf ein Rotary-Stipendium (Rotary Peace Fellowship) beworben und wurde ausgewählt, um an einem eigenen Projektvorschlag zur Entwicklung restorativer Netzwerke zu arbeiten. Auch beschäftige ich mich mit der Idee der Existenzgründung, um friedens- und konfliktrelevante Bildungsinhalte international noch bekannter zu machen und interessierten Akteuren zur Verfügung zu stellen. Bolivien und andere, lateinamerikanische Länder werden dabei weiterhin eine Rolle spielen. Auch ist ein Aufenthalt am Rotary Peace Center der Chulalongkorn University in Bangkok für 2023 geplant.

1„Restorative Justice ist Respekt. Respekt für alle, auch für die, die anders sind als wir; auch diese die scheinbar unsere Feinde sind. Respekt erinnert uns an unsere Verbundenheit, aber auch an unsere Unterschiede. Respekt besteht darauf, dass wir Bedenken für alle Parteien ausgleichen. Wenn wir Gerechtigkeit als Respekt verfolgen, werden wir Gerechtigkeit auf restaurative Weise tun.“ Howard Zehr


„Teaching Peace Amidst Conflict and Postcolonialism“

Am 31. Mai 2023 ist das Buch „Teaching Peace Amidst Conflict and Postcolonialism“ bei Cambridge Scholar Press erschienen.

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Weitere Informationen

  • Fruechtel, F. und Halibrand, A.-M. (2016) Restorative Justice. Theorie und Methode für die soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer Fachmedien
  • Gugel, G. (2006) Gewalt und Gewaltprävention. Grundfragen, Grundlagen, Ansätze und Handlungsfelder von Gewaltprävention und ihre Bedeutung für Entwicklungszusammenarbeit. Tübingen: Deile
  • Zehr, H. (2010) Fairsöhnt. Restaurative Gerechtigkeit. Wie Opfer und Täter heil werden können. Schwarzenfeld: Neufeld-Verlag
  • Das „International Institute for Restorative Practices” in  Bethlehem, Pennsylvania (USA) gehört zu den weltweit führenden Instituten, die sich für einen restorativen Ansatz im Schulsystem engagieren. Website: https://www.iirp.edu/
  • Das deutsche Servicebüro für Täter-Opfer-Ausgleich und Konfliktschlichtung informiert im TOA-Magazin regelmäßig über Entwicklungen im Bereich der restorativen Jutiz. https://www.toa-servicebuero.de/

Über den Autor

Andreas Riemann war ab Mitte der 1990er Jahre im Bereich der sozialen Arbeit in seiner Geburtsstadt Hamburg tätig. Seit 2007 hat er sich beruflich fast durchgehend in Lateinamerika aufgehalten: Von 2007 bis 2010 war er mit Peace Brigades International (PBI) als Fachkaft in Kolumbien, von 2016 bis 2022 hat er mit EIRENE einen Entwicklungsdienst in Bolivien geleistet. Dazwischen war er für verschiedene andere Einsätze in Argentinien, Ecuador und Kolumbien tätig.

2011 bis 2013 absolvierte er ein Masterstudium in „Peace and Reconciliation Studies“ an der University of Coventry“ und hat sich  2020/2021 zum Traumaberater fortbilden lassen.